Das hereditäre Angioödem ist eine vererbbare Erkrankung, bei der es zur Schwellung von Gesicht und den Atemwegen, aber auch zu Magen-Darm-Beschwerden kommen kann. Die Ursache ist ein Gendefekt, wodurch ein bestimmtes Enzym des Immunsystems nicht mehr funktionsfähig ist. Vor allem die Schwellung des Kehlkopfes stellt eine Notfallsituation dar und muss schnell und adäquat behandelt werden. Die Prognose des hereditären Angioödems ist heutzutage relativ gut.
Die Ursache für das hereditäre Angioödem ist ein Gendefekt. Von diesem Defekt ist ein Gen betroffen, das für ein bestimmtes Enzym codiert, das heißt, dass es dafür verantwortlich ist, dass dieses Enzym hergestellt wird. Dieses Enzym wird als C1-Esterasehemmer oder C1-Esterase-Inhibitor bezeichnet. Folge des Gendefekts ist entweder ein Enzymmangel oder ein zwar vorhandenes aber nicht funktionsfähiges Enzym. Welche Faktoren eine akute Krankheits-Attacke auslösen können, ist nach wie vor nicht ausreichend geklärt. Fakt ist, dass das Enzym C1-Esterhasehemmer eine wichtige Rolle im Komplementsystem spielt. Hierbei handelt es sich um einen Teil des körpereigenen Immunsystems. Ein Mangel an diesem C1-Esteraseinhibitor führt zu einer Art Überempfindlichkeit dieses Teils des Immunsystems. Hierdurch wird eine Kaskade ausgelöst, an deren Ende das Gewebshormon Bradykinin steht. Dieses Hormon führt zu einer vermehrten Durchlässigkeit von Blutgefäßen (Gefäßpermeabilität). Dies wiederum führt dazu, dass vermehrt Flüssigkeit aus den Gefäßen ins umliegende Gewebe austritt. Hierdurch kommt es zu den typischen Schwellungen im Bereich von Haut und Schleimhaut.
Die typischen Symptome eines hereditären Angioödems sind wiederkehrende Schwellungen der Haut (insbesondere im Gesicht) und / oder der Schleimhaut im Magen-Darm-Trakt oder im Bereich der Atemwege. Mögliche Hinweiszeichen für eine nahende Attacke (Prodromi) können Symptome wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit, ein verstärktes Durstgefühl, Aggressionen und eine depressive Verstimmung sein. Nachfolgend kommt es zu Schwellungen der Haut, die sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht gerötet, sondern hautfarben und meist prall sind. Sie treten insbesondere im Gesichtsbereich, aber auch an Händen, Füßen und im Genitalbereich auf. Die Schwellungen gehen äußerst selten mit Juckreiz einher, häufig tritt jedoch ein begleitendes Spannungsgefühl auf. Die Schwellungen können schmerzhaft sein. Sie können sich bereits nach einigen Stunden wieder zurückbilden, können jedoch auch bis zu sieben Tage bestehen bleiben. Durchschnittlich bestehen die Schwellungen ein bis drei Tage.
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Bei einigen Patienten kann es zu einer Schwellung im Bereich der Atemwege kommen. Eine solche Schwellung ist potentiell lebensgefährlich, da die Atemwege hierbei soweit zuschwellen können, dass es ohne sofortige intensivmedizinische Maßnahmen mit Atemwegssicherung zum Ersticken kommt. Am häufigsten ist von einer solchen Schwellung im Bereich der Atemwege der Kehlkopf betroffen. Man spricht dann von einem sogenannten Larynxödem. Neben den krankheitstypischen episodisch auftretenden Schwellungen kommt es bei zahlreichen Patienten begleitend zu Symptomen im Bereich des Magen-Darm-Trakts. Am häufigsten kommt es zu Bauchkrämpfen und Übelkeit. Auch Erbrechen und starke Durchfälle können vorkommen. Die Magen-Darm-Beschwerden können, wie auch die Schwellungen, über mehrere Tage andauern. Bei manchen Patienten treten die Magen-Darm-Beschwerden isoliert, also ohne die Hautschwellungen, auf. Dies kann die Diagnosestellung erheblich erschweren. Bei einigen Patienten gehen die Magen-Darm-Symptome den Hautsymptomen um Jahre voraus. Nicht selten führen die starken, kolikartigen Magen-Darm-Beschwerden, die ohne begleitende Hautsymptome auftreten, in die Irre. Es kann soweit kommen, dass betroffene Patienten aufgrund stärkster Bauchschmerzen (akutes Abdomen) operiert werden, weil der Verdacht auf chirurgische Krankheitsbilder, wie beispielsweise eine akute Blinddarmentzündung (Appendizitis), besteht.
Das hereditäre Angioödem manifestiert sich am häufigsten bereits bis zum 10. Lebensjahr. Eine später auftretende Erstmanifestation ist eher selten. Im weiteren Verlauf kommt es zu rezidivierenden Attacken mit Schwellungen oder Magen-Darm-Beschwerden. Bei manchen Patienten treten nur Hautschwellungen, bei anderen nur Magen-Darm-Symptome auf. Die Attackenfrequenz variiert stark. So treten bei manchen Patienten alle paar Tage Beschwerden auf, bei anderen deutlich seltener. Die Laborwerte sind hierbei kein Maßstab für die Intensität oder Häufigkeit der Beschwerden. Frauen sind im Schnitt stärker betroffen als Männer. Während einer Schwangerschaft können die Symptome ebenfalls zunehmen. Das hereditäre Angioödem ist eine Erkrankung, die zwar behandelbar, aber nicht heilbar ist.
Die meisten Attacken beim hereditären Angioödem treten ohne erkennbaren Auslöser auf. In einigen Fällen können jedoch zahnärztliche Eingriffe oder Eingriffe im Bereich des Rachens und der Atemwege, beispielsweise eine Mandelentfernung (Tonsillektomie) oder Intubation (Einführen eines Schlauches in die Atemwege zur Beatmung, beispielsweise im Rahmen einer geplanten Operation), als Auslöser benannt werden. Manche Patienten geben außerdem grippale Infekte oder psychischen Stress als mögliche Auslöser an. Es gibt außerdem bestimmte Medikamente, die die Wahrscheinlichkeit von Attacken deutlich erhöhen können. Hierzu zählen insbesondere Medikamente gegen Bluthochdruck oder Herzinsuffizienz, insbesondere ACE-Hemmer, wie Ramipril oder Enalapril, oder seltener Angiotensin-Rezeptor-Antagonisten, wie Candesartan oder Valsartan. Bei Frauen kann auch die Einnahme von östrogenhaltigen Verhütungsmitteln Attacken auslösen.
Das hereditäre Angioödem ist leider eine Erkrankung, die häufig erst nach längerer Krankheitsdauer richtig diagnostiziert wird. Zunächst ist die Anamnese wichtig. Berichten Patienten über wiederholt auftretende plötzliche Schwellungen von Haut oder Schleimhaut, liegt die Diagnose nicht allzu fern und eine weitere Diagnostik kann erfolgen. Es gibt jedoch auch Patienten mit einem hereditären Angioödem, die nicht an den typischen Schleimhautschwellungen leiden, sondern beispielsweise an wiederkehrenden Magen-Darm-Beschwerden. Bei diesen Patienten kann die untypische Symptomatik die Diagnose deutlich erschweren. Neben der Eigen-Anamnese spielt auch die Familienanamnese eine wesentliche Rolle bei der Diagnostik. Hierbei ist es wichtig zu erfragen, ob ähnliche Symptome in der Familie aufgetreten sind.
Um die Diagnose schlussendlich zu sichern, müssen jedoch verschiedene Blutwerte bestimmt werden. Unter anderem die Konzentration und Aktivität des Enzyms C1-Esteraseinhibitor. Diese sind beim hereditären Angioödem vermindert. Auch die Konzentration des Komplementfaktors C4 spielt eine entscheidende Rolle in der Diagnostik. Der Faktor C4 ist bei erkrankten Patienten in geringerer Konzentration vorhanden als bei gesunden Patienten. In eher seltenen Fällen ist eine genetische Untersuchung zur Diagnosesicherung notwendig. Bei Kindern erkrankter Familien sollte eine frühzeitige Bestimmung der oben genannten Werte erfolgen, um die Diagnose zu sichern. Dies kann unter Umständen lebensrettend sein.
Das Angioödem ist ein Symptom, das im Rahmen von zwei unterschiedlichen Erkrankungen vorkommt. Die strikte Differenzierung der beiden Krankheitsbilder ist deshalb wichtig, weil die Entstehung und auch die Behandlung der Erkrankungen sich deutlich voneinander unterscheiden.
Während das hereditäre Angioödem eine Erkrankung ist, die vererbbar ist und durch eine fehlende Inaktivierung oder übermäßige Aktivierung des Komplementsystems zustande kommt, tritt das „normale“ Angioödem, auch als Quincke-Ödem bezeichnet, häufig im Rahmen einer Nesselsucht auf. Hierbei kann das Angioödem begleitend zur Nesselsucht aber auch isoliert davon und als einziges Symptom auftreten. Die Angioödeme, die im Rahmen von Urtikaria auftreten, sind Histamin-vermittelt. Sie treten also im Rahmen einer allergischen Reaktion auf. Der Körper reagiert allergisch und es kommt zu einer vermehrten Histaminausschüttung. Histamin führt zu einer vermehrten Blutgefäßdurchlässigkeit (Gefäßpermeabilität) und es kommt zu einem vermehrten Flüssigkeitsausstrom aus den Gefäßen ins Gewebe. Beiden Formen von Angioödemen ist also gemein, dass es zu einem vermehrten Austritt von Gefäßflüssigkeit ins Gewebe kommt. Dies resultiert in einer Schwellung der betroffenen Bereiche. Das auslösende Gewebshormon unterscheidet sich aber: Histamin beim „normalen“ Angioödem versus Bradykinin beim hereditären Angioödem.
Während das hereditäre Angioödem oftmals bereits vor dem 20. Lebensjahr erstmalig zu Symptomen führt, manifestiert sich das „normale“ Angioödem oftmals erst im Erwachsenenalter. Beim „normalen“ Angioödem kommt es durch die Histamin-Wirkung neben einer Schwellung auch zu einer Rötung und zu Juckreiz im Bereich der geschwollenen Stellen. Beim hereditären Angioödem hingegen ist die Schwellung nicht gerötet sondern hautfarben, Juckreiz ist selten.
Ursache für ein „normales“ Angioödem können Infekte oder Medikamente sein. In vielen Fällen bleibt die Ursache jedoch ungeklärt. Beim „normalen“ Angioödem finden sich in den meisten Fällen keine pathologischen Laborwerte, während bei der hereditären Form bestimmte Werte auffällig sind. Während das hereditäre Angioödem im Gesicht, aber häufig auch im Magen-Darm-Trakt vorkommt, ist vom „normalen“ Angioödem meist nur der Gesichtsbereich (insbesondere der Mund- und Augenbereich) betroffen.
Bei beiden Formen der Erkrankung besteht das Risiko eines Zuschwellens der Atemwege, dem Larynxödem. Dieses ist akut lebensbedrohlich und bedarf einer sofortigen Notfalltherapie. Die Art der Notfalltherapie – wie auch der Standardtherapie – unterscheidet sich jedoch bei den beiden Formen. Das „normale“ Angioödem spricht gut auf eine Therapie mit Antihistaminika oder Steroiden/Kortikoiden, wie Prednisolon, sowie Adrenalin im Rahmen der Notfalltherapie an. Beim hereditären Angioödem hingegen sind diese Medikamente wirkungslos, es muss zu Spezialmedikamenten gegriffen werden.
Es ist essentiell, im Hinterkopf zu haben, dass das hereditäre Angioödem eine potentiell lebensbedroliche Erkrankung ist, da das Zuschwellen der Atemwege ohne das Einleiten adäquater Maßnahmen zum raschen Tod durch Ersticken führen kann. Entscheidend ist daher zunächst die Versorgung des Patienten mit einem Notfallausweis, welcher immer und überall mitgeführt werden sollte. Außerdem müssen Patienten und Angehörige ausführlich über die möglichen Symptome und die zu ergreifenden Maßnahmen im Akutfall aufgeklärt werden. Meist ist eine Erst-Behandlung an einem spezialisierten Behandlungszentrum zu empfehlen.
Eine Behandlung der Schwelllungen im Akutfall ist nicht immer notwendig. So sind leichte Schwellungen im Bereich von Händen und Füßen, sofern diese den Betroffenen nicht stören, nicht zwingend behandlungsbedürftig. Auch die Magen-Darm-Attacken müssen nicht zwingend behandelt werden. Bei moderaten Attacken kann die orale Einnahme eines krampflösenden Medikaments wie Buscopan ® ausreichend sein.
In einigen Fällen sind die kolikartigen Beschwerden jedoch so schmerzhaft, dass eine spezifische Behandlung notwendig ist. Im Akutfall wird ein sogenanntes C1-INH-Konzentrat verabreicht. Dabei handelt es sich um Hemmer eines bestimmten Faktors (C1) des Immunsystems, wodurch eine Schwellung gelindert werden kann. Das Konzentrat muss über einen venösen Zugang verabreicht werden, was durch eine Schulung auch selbstständig durchführbar ist. Alternativ steht das Mittel Icatiband zur Verfügung. Es ist ein sogenannter Bradykinin-Antagonist, der unter die Haut gespritzt werden kann und das gefäßerweiterende Hormon Bradykinin hemmt.
Patienten mit Schwellungen im Bereich von Mund, Rachen oder Kehlkopf gelten als Notfall und müssen sofort einer stationären Behandlung zugeführt werden. Hier kann eine Intubation zur Sicherung der Atemwege notwendig werden.
Wenn trotz adäquater Therapie noch immer mehr als 12 Attacken pro Jahr auftreten sollte über eine vorbeugende Maßnahme nachgedacht werden. Hierfür kommen Androgene, wie Danazol, Oxandrolon und Stanazolol, in Frage, die jedoch wegen ihrer zahlreichen Nebenwirkungen in Deutschland nicht zur Behandlung des hereditären Angioödems zugelassen sind. Ein weiteres Medikament zur Langzeitprophylaxe ist die Tranexamsäure, die antifibrinolytisch ist, also der Auflösung von Blutgerinnseln entgegen wirkt. Eine mögliche Nebenwirkung ist daher die Bildung von Blutgerinnseln (Thrombosen). Auch eine Langzeitbehandlung mit C1-INH-Konzentrat ist ein möglicher Therapieansatz.
Heutzutage ist die Prognose für Patienten mit einem hereditären Angioödem durch die deutlich verbesserten Therapiemaßnahmen deutlich günstiger als früher. Nichtsdestotrotz kommt es immer noch vor, dass Patienten an einem akuten Larynxödem versterben, da sie nicht schnell genug einer adäquaten Therapie zugeführt werden. Die Diagnosestellung ist daher ausgesprochen wichtig, um Patienten und Angehörige entsprechend zu schulen und auf Notfallsituationen adäquat vorbereiten zu können. Jeder Patient mit einem hereditären Angioödem sollte einen Notfallausweis besitzen und immer mit sich führen.
Da es sich bei dem hereditären Angioödem um einen Gendefekt handelt, gibt es keine vorbeugenden Maßnahmen. Der Defekt wird vererbt oder eben nicht.
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