Zehenspitzengang beim Kind - ab wann ist es unnormal?

Bei sogenannten Zehenspitzengang laufen die betroffenen Kinder auf dem Vorfuß, wobei die Zehen flach auf dem Boden liegen und der Abrollvorgang weitgehend ausbleibt, dies kann verschiedene Ursachen haben.

Zehenspitzengang beim Kind

Einführung

Der Zehenspitzengang wird bei etwa 5% der Kinder im Vorschulalter beobachtet.

Der Begriff Zehenspitzengang ist dabei genau genommen nicht ganz richtig, da die Kinder auf dem Vorfuß laufen, wobei die Zehen flach auf dem Boden liegen und der Abrollvorgang weitgehend ausbleibt. Treffender wäre also die Bezeichnung Zehengang.

Kinder mit einem solchen Gangbild werden häufiger beim Orthopäden vorgestellt. Liegt ein Zehengang länger als drei Monate vor, so wird er als „persistierend“ (anhaltend) bezeichnet.

Ursachen

Idiopathischer Zehenspitzengang

Bei vielen Kindern wird auch durch intensive Diagnostik und Befragung keine Ursache des Zehenspitzengangs deutlich.

Es liegt also keine körperliche oder psychische Erkrankung zu Grunde, der Zehenspitzengang tritt aus unbekannten Gründen auf. Man spricht hier vom idiopathischen (unbekannter Ursache) oder habituellen (gewohnheitsmäßigem) Zehenspitzengang. Der habituelle Zehenspitzengang kann in 3 Formen unterteilt werden.

Typ I

Typ I macht ca. 1/3 der Fälle aus, hierbei hat die Ganganomalie eine Muskelverkürzung als Ursache. Die Kinder können deshalb meistens nicht auf der gesamten Fußfläche stehen und ihr Gleichgewicht ist beeinträchtigt.

Typ II

Bei Typ II tritt der Zehenspitzengang in der Familie gehäuft auf, es liegt also eine genetische Komponente zugrunde. Dieser Typ 2 tritt bei etwas mehr als der Hälfte aller idiopathischen Zehenspitzengänger auf. Die Kinder können dann auf der gesamten Fußfläche stehen und auch auf Aufforderung im normalen Fersengang gehen, dazu muss allerdings die Hüfte außenrotiert werden.

Typ III

Typ III wird als „situativer Zehenspitzengang“ bezeichnet. Die Kinder können ohne Probleme im Fersengang gehen, nur bei Belastung (in bestimmten Situationen) kehren sie unwillkürlich zum Zehenspitzengang zurück. Die Typ-III-Patienten fallen zum Teil auch durch Konzentrationsstörungen und ungewöhnliche Verhaltensweisen auf.

Im Laufe ihrer Kindheit entwickeln viele dieser Kinder ohne eine ärztliche Behandlung einen vollkommen normalen Gang. Vor allem bei Kindern, die im Begriff sind Laufen zu lernen, tritt häufig ein Zehenspitzengang auf, der sich meist nach 3 bis 6 Monaten in ein normales Gangbild verwandelt. Wichtig ist, dass der idiopathische Zehenspitzengang immer eine Ausschlussdiagnose ist, das heißt, dass erst andere Erkrankungen ausgeschlossen werden müssen, um diese Diagnose stellen zu dürfen.

Verkürzte Achillessehne

Beim idiopathischen oder habituellen Zehenspitzengang ist häufig die Achillessehne verkürzt. Zudem ist die Wadenmuskulatur kontrahiert (angespannt). Unter Medizinern herrscht Uneinigkeit, ob diese beiden Symptome Folge oder Ursache des Zehengangs sind.

Neuromuskuläre Ursachen

Es gibt zahlreiche neuromuskuläre Erkrankungen, bei denen ein Zehenspitzengang als Symptom erscheinen kann. Die ursächliche Störung kann sich dabei auf allen Ebenen vom Gehirn bis zum ausführenden Muskel befinden.

Hierbei sind vor allem das Großhirn, das den Befehl für die Muskelkontraktion gibt, oder das Rückenmark, das die Befehle weiterleitet, zu nennen. Die assoziierten Krankheitsbilder sind z.B. eine spastische Zerebralparese oder eine verzögerte Reifung des Tractus corticospinalis (ein Strang des Rückenmarks). Die Abgrenzung zum idiopathischen Zehenspitzengang ist häufig schwierig.

Beim idiopathischen Zehenspitzengang ist der Fuß auch bei gebeugtem Knie so gebeugt, als würde das Kind auf den Zehen stehen. Bei der spastischen Zerebralparese hingegen geht der Fuß bei Kniebeugung häufig in eine Extensionsstellung (Zehenspitzen zeigen zur Nase) zurück.

Die verzögerte Reifung des Tractus corticospinalis kommt in manchen Familien gehäuft vor, hier wandelt sich der Zehenspitzengang meist in einem Lebensalter von 6 bis 8 Jahren in ein vollkommen normales Gangbild um.

Auch bei der progressiven Muskeldystrophie, einer erblichen Muskelerkrankung, kann es durch eine zunehmende Anfälligkeit der Muskelfasern zum Zehenspitzengang kommen. Typisch ist hierbei, dass die Kinder zunächst ein normales Gangbild entwickeln und erst in der Folge in einen Zehenspitzengang übergehen.

Desweiteren können verschiedene Nervenerkrankungen zu einem Zehenspitzengang führen.

Klumpfuß

Der Klumpfuß ist eine angeborene Fehlstellung des Fußes, die häufig beidseits auftritt. Aufgrund dieser Fehlstellung kann es zum Zehenspitzengang kommen. Häufig lernen die betroffenen Kinder erst spät laufen und fallen durch ein unsicheres Laufen auf.

Geistige Behinderung

Studien haben gezeigt, dass ein Zehenspitzengang bei geistig retardierten Kindern weitaus häufiger auftritt als bei anderen Kindern.

Eine Vermutung ist, dass diese Kinder eine gestörte Gleichgewichtswahrnehmung haben und der Zehenspitzengang ihnen hilft, genauere Informationen über die Gleichgewichtslage aus dem Sprunggelenk zu erzielen.

Eine andere Theorie besagt, dass die Kinder in ihrer Entwicklung zurückgeblieben sind und so zunächst auf einem Stand des Laufenlernens stehen geblieben sind, bei dem der Fersengang noch nicht beherrscht wird.

Autismus

Als Autismus wird eine angeborene schwerwiegende Entwicklungsstörung bezeichnet, die die Informationsweiterleitung und Verarbeitung betrifft.

Schon im frühen Kindesalter fallen die Betroffenen durch eine mangelnde Kommunikations- und soziale Interaktionsfähigkeit auf. Neben stereotypen Verhaltensmustern und auffallend guten Fähigkeiten in Aufmerksamkeit, Intelligenz und Gedächtnis sind Schwierigkeiten bei der Koordination charakteristisch. So wird ein Zehenspitzengang bei bis zur Hälfte der autistischen Kinder beobachtet, Erwachsene Autisten hingegen laufen meist nicht mehr im Zehenspitzengang.

Die betroffenen Kinder bewegen sich zudem teilweise hüpfend, wirbelnd oder mit stelzendem Gang fort. Forscher vermuten, dass die Kinder so eine vestibuläre (den Gleichgewichtssinn betreffende) Störung ausgleichen.

Im Umkehrschluss bedeutet das gehäufte Vorkommen des Zehenspitzenganges bei autistischen Kindern nicht, dass ein Großteil der Kinder, die gelegentlich auf den Zehenspitzen laufen, autistisch ist. Die habituelle Form des Zehenspitzengangs ist weitaus häufiger und sofern bei dem Kind keine Verhaltensauffälligkeiten beobachtet werden, besteht kein Grund zur Vermutung, das Kind könne autistisch veranlagt sein.

Es gibt eine Form des Autismus - das Asperger-Syndrom. Gekennzeichnet ist das Asperger-Syndrom durch erschwerte soziale Interaktion, wie zum Beispiel fehlendem oder vermindertem Empathieempfinden und fehlendem Verständnis von emotionalen Botschaften wie Freunde, Traurigkeit, Wut oder Ärger.

Lesen Sie mehr zum Thema: Asperger-Syndrom

Diagnostik

Oft ist ein Zehenspitzengang harmlos und tritt nur vorübergehend auf.

Um ernstere neurologische oder geistige Ursachen auszuschließen, entscheidet der Arzt sich von Fall zu Fall zu einer mehr oder weniger aufwendigen Diagnostik. Dies hängt davon ab, in welchem Alter der Zehenspitzengang auftritt, wie lang er bereits anhält oder welche sonstigen Symptome aufgefallen sind.

In jedem Fall betrachtet der Arzt genau das Gangbild des Kindes. Er untersucht die Anatomie des Fußes, des Sprunggelenkes und der Wade. Auch Hüfte und Kniegelenk sollten in ihrer Beweglichkeit getestet werden. Zudem ist eine Überprüfung des Gleichgewichtssinnes des Kindes wichtig.

Die Ganganalyse kann auch elektronisch durch das Erfassen von Reflektoren auf der Haut durch viele kleine Kameras erfolgen. Zudem misst ein EMG (Elektromyogramm) die Muskelaktivität, um Erkrankungen der Nerven oder Muskeln auszuschließen. Hierbei wird vor allem der Fußhebermuskel (Musculus tibialis anterior) auf seine Funktion überprüft.

Besteht der Verdacht auf eine zerebrale Parese, eine geistige Behinderung oder Autismus als Ursache, so werden entsprechende neurologische Funktionsprüfungen durchgeführt und die geistige Entwicklung überprüft.

Behandlung

Auch die Behandlung hängt von der Ursache des Zehenspitzengangs ab.

Besteht der Zehenspitzengang aufgrund einer anderen Erkrankung wie einer neuromuskulären Störung, einem Klumpfuß oder aber im Rahmen eines Autismus, so sollte diese zugrunde liegende Ursache bestmöglich therapiert werden.

Ist eine ursächliche Therapie möglich, so wird sich auch das Zehenspitzen-Gehen in ein normales Gangbild verwandeln. Die hier genannten Therapieformen beziehen sich also hauptsächlich auf den idiopathischen Zehenspitzengang und Formen, bei denen die Grunderkrankung als Ursache nicht behandelt werden kann.

Physiotherapie

Vom Zehenspitzengang sind fast ausschließlich Vorschulkinder betroffen. In etwa 50% der Fälle erledigt sich das Problem des Zehenspitzengang bis zum Schulanfang von ganz allein. Zum physiotherapeutischen Ansatz gehört zunächst das Abschätzen des Schweregrades. Hierzu erfolgt die Untersuchung der Füße und der Beine. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Beweglichkeit des oberen und unteren Sprunggelenks, sowie der anderen großen Gelenke der unteren Extremität wie Knie und Hüfte. Zudem ist es wichtig, dass Gangbild genau zu beobachten und entsprechend zu bewerten. Bei circa einem Drittel der Betroffenen kommt es zu einer Verkürzung der Wadenmuskulatur bzw. der Achillessehne. Durch entsprechende physiotherapeutische Dehnübungen kann dies beseitigt werden. Außerdem flacht im Verlauf häufig das physiologische Fußgewölbe ab und kann durch Physiotherapie wieder aufgebaut werden.

Die Kinder neigen zudem häufig dazu ins Hohlkreuz (Lendenwirbelsäulen-Lordose) zufallen. Die physiotherapeutischen Maßnahmen dienen dann im Sinne einer Haltungsschule zum Kraftaufbau z.B. der Rückenmuskulatur und zur Förderung der Beweglichkeit. Gleichgewichts- und Koordinationsübungen sind ebenso hilfreich. Die regelmäßige Physiotherapie zeigt bereits nach 6 Monaten erhebliche Erfolge und kann nach einem bis zwei Jahren abgeschlossen werden.

Hat sich trotz konservativer Maßnahmen wie Physiotherapie kein Erfolg eingestellt, stehen als Alternative zur Behebung der Fußfehlstellung Orthesen, Gipsverbände oder Schienen für die Nacht zu Verfügung. Hat sich der Zehenspitzengang im Kindesalter nicht verwachsen und besteht bis ins Erwachsenenalter fort, kommen meistens durch die Fehlbelastung Probleme mit dem Rücken, der Hüfte und den Knien hinzu. Hierbei ergeben sich wiederum verschiedene Ansatzpunkte einer Physiotherapie. Vor allem die Stärkung der richtigen Muskulatur zum Ausgleich der Fehlhaltung wird hier relevant. In der Physiotherapie wird zudem darauf geachtet die erlernte Fehlhaltung abzulegen und den physiologischen Gang erneut zu erlernen. Dieser Prozess kann sehr langwierig sein, ist aber langfristig die einzige Chance der Beschwerdefreiheit.  

Osteopathie

Ergänzend zu einer Physiotherapie können auch osteopathische Strategien hilfreich sein. Der Zehenspitzengang geht häufig mit einer eingeschränkten Beweglichkeit anderer Gelenke, vor allem des oberen Sprunggelenks einher. Der Osteopath spürt dies im besten Falle auf und wirkt entsprechend dagegen. Auch Fehlhaltungen z.B. des Rückens können mithilfe der Osteopathie behandelt werden.

Wahrnehumgsstörung

Kinder die den Zehenspitzengang bevorzugen, haben häufig Schwierigkeiten im normalen Stand das Gleichgewicht zu finden. Es liegt also diesbezüglich eine Störung der Gleichgewichtswahrnehmung vor. Mit verschiedenen Übungen kann dies jedoch geschult und optimiert werden. Einige Kinder weisen den Zehenspitzengang in Situationen auf, in denen sie unter hoher Belastung, Aufregung oder Müdigkeit stehen. Der Zehenspitzengang ist bei diesen Kindern also situativ. Hierbei kann versucht werden, die Wahrnehmung hinsichtlich solcher Auslösesituationen zu verändern und adäquate Strategien z.B. gegen Stress zu entwickeln. Bei einigen Kindern mit einem Zehenspitzengang zeigt sich eine Korrelation zu anderen Störungen. In einigen Fällen weisen die Kinder Schwächen in der Konzentration oder andere Auffälligkeiten des Verhaltens auf.   

Einlagen

Zur Therapie des Zehenspitzengangs gibt es speziell entwickelte Einlagen, die Pyramideneinlagen nach Pomarino®. Die Einlagen werden für jedes Kind individuell angepasst. Der Fuß wird durch diese Einlage besonders unterstützt und bekommt neuen Halt. Das Material ist insgesamt sehr belastungsfähig, was vor allem für die starke Vorfußbelastung beim Zehenspitzengang wichtig ist. Die Einlagen haben nicht nur eine direkte positive Wirkung auf den Fuß, sondern wirken indirekt auch auf die Sehnen und Muskeln.

Zusammenfassung

Der idiopathische Klumpfuß „verwächst sich“ in vielen Fällen auch ohne ärztliches Zutun noch im Kindesalter. Wann eine Therapie notwendig ist, und wann regelmäßige Kontrollen ausreichen, entscheidet in jedem Fall der spezialisierte Arzt (meist ein Orthopäde).

Bei der frühen Therapie werden häufig spezielle Pyramideneinlagen benutzt. Diese werden individuell an den Fuß angepasst und sollen ihn in eine Normalstellung zwingen. Durch Physiotherapie und bestimmte Dehnübungen kann zusätzlich eine verkürzte Achillessehne therapiert werden. Diese Behandlung des idiopathischen Zehenspitzenganges ist nach ca. 6 bis 24 Monaten abgeschlossen und weist eine sehr gute Prognose auf.

Tritt hierdurch keine ausreichende Besserung auf, so wird mit Hilfe von Orthesen, Gipsen oder Schienen eine Normalstellung zu erzielen versucht. Der häufig kontrahierte Wadenmuskel kann durch eine Injektion von Botulinumtoxin (Botox) relaxiert werden. Eine operative Verlängerung der verkürzten Achillessehne hingegen ist eher selten.

Verlauf

Der Verlauf hängt von der zugrunde liegenden Erkrankung und deren Therapiemöglichkeiten ab.

Beim idiopathischen Zehenspitzengang kommt es in der Hälfte aller Fälle zu einer kompletten Normalisierung des Gangbildes ohne Behandlung.

Bleibt der Zehenspitzengang bis ins Erwachsenenalter erhalten, so kommt es gehäuft zu verbreiterten Vorfüßen und Hohlfüßen.

Die Folge der abnormen Belastung bestimmter Muskelgruppen und des Skeletts kann eine vorzeitige Abnutzung und Fehlstellung von Hüfte, Knie oder Sprunggelenk zur Folge haben. Besonders Typ III hat eine hohe Spontanheilungsrate, die Typen I und II haben rechtzeitig behandelt ebenfalls eine ausgezeichnete Prognose. Diese ist am besten, wenn die Behandlung vor dem 5. Lebensjahr erfolgt, Spätfolgen sind dann nicht zu erwarten. Auch darüber hinaus ist eine Behandlung sehr effektiv, sie kann sich allerdings langwieriger und aufwändiger gestalten.

Weitere Informationen

Weitere interessante Informationen zum Thema Zehenspitzengang beim Kind finden Sie unter:

Eine Übersicht über alle bereits veröffentlichten Themen in der Kinderheilkunde finden Sie unter: Kinderheilkunde A-Z.

Autor: Dr. Nicolas Gumpert Veröffentlicht: 30.11.2015 - Letzte Änderung: 18.09.2024