Die retrograde Amnesie bezeichnet den Gedächtnisverlust der Ereignisse, die beispielsweise vor einem Sturz passiert sind. Sie kann durch Alkohol, nach einer Operation, durch Medikamente oder auch im Rahmen einer Demenz-Erkrankung oder anderen Krankheitsbildern verursacht werden. Nach der Ursache richtet sich auch die Behandlung und Prognose.
Unter einer retrograden Amnesie (lat. retrograd: „räumlich und zeitlich zurückliegend“, griech. Amnesie: „Gedächtnisverlust“) versteht man einen Gedächtnisverlust, bzw. die fehlende Erinnerung und das Bewusstsein an Dinge und Erlebnisse, die kurz vor einem bestimmten Ereignis, z.B. einem Unfall, stattgefunden haben. Die betroffene Person kann sich somit nach einem schweren Trauma beispielsweise nicht mehr an den Unfallhergang erinnern und es fehlen diese zurückliegenden Informationen. Der Gedächtnisverlust umfasst dabei meist nur einen kurzen Zeitraum vor dem auslösenden Ereignis. Dabei muss das Ausmaß der Gedächtnislücke nicht mit dem Schweregrad der Schädigung zusammenhängen.
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Sämtliche Ursachen, die zu einem Hirnschaden und einem Untergang von Hirnnervengewebe führen können, kommen als Auslöser für die Ausbildung einer retrograden Amnesie infrage. So kann beispielsweise ein Trauma nach einem Unfall oder Sturz einen Gedächtnisverlust bewirken, indem es zu schweren Verletzungen am Kopf bzw. Schädel und damit auch am Gehirn kommen kann. Dies ist oft verbunden mit einem Bewusstseinsverlust.
Generell kommt es bei der mangelhaften Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff und Nährstoffen zu einem teilweise irreversiblen Verlust von Nervenzellen. Wenn davon solche Hirnbereiche betroffen sind, die für das Speichern von Informationen ins Langzeitgedächtnis verantwortlich sind, kann dies zu einer retrograden Amnesie führen. Somit kann neben einer Gehirnerschütterung auch eine Demenz, eine Meningitis (eine Entzündung der Hirnhäute) oder ein epileptischer Krampfanfall einen Verlust von Gedächtnisinhalten bewirken.
Des Weiteren können für das Gehirn giftige Substanzen, wie Medikamente, Drogen oder auch Alkohol, als Auslöser in Frage kommen, wenn sie die Bluthirnschranke passieren können. Die retrograde Amnesie kann auch Form eines Schutzmechanismus vor einer schweren psychischen Störung oder Belastung der betroffenen Person sein.
Nach einem Unfall kommt es häufig zu schweren Verletzungen an mehreren Organen und oft auch zu einem Schädel-Hirn-Trauma. Zum einen kann darauf durch beispielsweise eine Blutung im Gehirn ein Bewusstseinsverlust bis hin zu einem komatösen Zustand folgen. Zum anderen können durch den insgesamt starken Blutverlust ein Kreislaufversagen und Schock hervorgerufen werden. In beiderlei Hinsicht führt dies zu einer Unterversorgung von Hirngewebe mit nachfolgendem Verlust von Nervenzellen.
Die genaue Ursache und der Zusammenhang der Hirnverletzung mit dem Ausmaß eines Gedächtnisverlusts ist bislang noch unklar. Sicher ist allerdings, dass es zu einer Störung in den Hirnbereichen kommt, die für die Abspeicherung von Informationen im Langzeitgedächtnis oder deren Abruf zuständig sind. Am Ende resultiert die retrograde Amnesie, bei der sich der Betroffene typischerweise nicht mehr an den Hergang des Unfalls erinnern kann und diesbezüglich eine Gedächtnislücke hat.
Die während einer Operation erforderliche Narkose kann zu einer retrograden Amnesie führen. Dies ist im Rahmen der OP eine erwünschte Wirkung der Narkosemittel, damit sich der Patient nicht mehr an die Operation und damit auch den entstehenden Schmerz während des Eingriffs erinnert.
Die gegebenen Medikamente führen dazu, dass bestimmte Rezeptoren, sogenannte GABA Rezeptoren, beeinflusst werden. Dadurch kommt es zu einer Behinderung des Abspeicherns neuer Informationen ins Langzeitgedächtnis und zugleich zum Herbeiführen eines vorübergehenden Bewusstseinsverlusts. Diese Beeinflussung tritt nur während der Wirkzeit des Medikaments ein und verschwindet nach Abbau und Ausscheidung des Mittels, sodass üblicherweise keine nachfolgenden Auswirkungen auf die Gedächtnisfunktion befürchtet werden müssen.
Jedoch kommen neben den Narkosemitteln auch die Operation selbst als Auslöser einer Amnesie infrage, vor allem wenn eine OP am Gehirn erforderlich ist.
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Dass der Konsum von großen Mengen Alkohol zu einem Blackout bzw. Filmriss führen kann, ist sicherlich dem ein oder anderen aus eigener Erfahrung bekannt. Typischerweise kommt es zu einer retrograden Amnesie, sodass sich der Betroffene z.B. nach dem Aufwachen am nächsten Morgen nicht mehr an Details des vorherigen Abends erinnern kann. Denn Alkohol beeinflusst über sogenannte GABA Rezeptoren die Aufmerksamkeits- und Lernprozesse. Dabei ist diese Wirkung des Alkohols individuell unterschiedlich, so kommt es bei dem einen früher bei dem anderen erst später nach größeren Mengen Alkohol zu Erinnerungslücken. Generell führt jedoch vor allem das schnelle Trinken großer Mengen Alkohol über einen kurzen Zeitraum auch eher früher zu einem Blackout.
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Um das Ausmaß des Gedächtnisverlusts genau zu erfassen, ist eine gründliche Untersuchung mittels spezifischer und sensitiver Testverfahren notwendig. Hierfür ist der fachlich qualifizierte Neuropsychologe zuständig, der neben der Gedächtnisleistung auch andere kognitive Funktionen wie Aufmerksamkeit oder Exekutivfunktionen (also alle höheren mentalen Prozesse, die für zielgerichtete Handlungssteuerungen wichtig sind) prüfen sollte. Meist kommt es neben einer retrograden Amnesie nämlich auch zu weiteren Störungen in anderen Hirnfunktionen.
Außerdem spielt neben dem Arztgespräch (Anamnese) und der unterschiedlichen Testverfahren die Bildgebung eine Rolle, bei der das Ausmaß der Hirnschädigung verdeutlicht und in Zusammenhang gebracht werden kann. Hierdurch kann unter anderem auch die Ursache der retrograden Amnesie erfasst werden, indem z.B. eine Raumforderung oder Läsionen in verschiedenen Hirnbereichen im CT oder MRT dargestellt werden können. Zuletzt kann zudem durch die Messung von Hirnströmen mittels EEG (Elektroenzephalographie) beispielsweise eine Epilepsie als Ursache der Amnesie nachgewiesen werden.
Je nach Ursache der retrograden Amnesie kommen unterschiedliche Begleitsymptome infrage, die entweder zum Zeitpunkt des Gedächtnisverlusts vorhanden sind oder im Nachhinein durch die Belastung der Erinnerungslücke entstehen können.
So kommt es in der Folge eines Traumas bzw. Unfalls nicht selten zu vielen weiteren Schäden und Beschwerden, wie z.B. zu Knochenbrüchen oder Verletzungen an inneren Organen bzw. zu massiven Blutverlusten, die zu einem Schock führen können. Häufig bestehen begleitend zur Amnesie zum Zeitpunkt des Geschehens Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen bzw. im Nachhinein Verwirrung und Desorientierung zur jeweiligen Situation.
Ist die Epilepsie Ursache der Amnesie treten begleitend die Symptome des Krampfanfalls mit einem Verlust der Körperkontrolle, Zuckungen, unwillkürlichen Verkrampfungen und einem Bewusstseinsverlust auf. Typischerweise erinnert sich der Betroffene nicht mehr an den Anfall und die Zeit kurz vorher.
Weiterhin kommt es im Rahmen von fast allen Demenzerkrankungen wie beispielsweise vom Typ Alzheimer oder aber bei der Parkinson-Erkrankung zu Gedächtnisverlusten, Konzentrationsstörungen und Orientierungs- und Aufmerksamkeitsproblemen zusätzlich neben den spezifisch zur Erkrankung typischen Symptomen.
Die Amnesie mit den Erinnerungslücken kann den Betroffenen psychisch stark belasten, sodass man begleitet eine depressive, niedergeschlagene Stimmung beobachten kann.
Die retrograde Amnesie unterscheidet man von der anterograden Amnesie, also eine Erinnerungslücke für die nachfolgenden Ereignisse, d.h. eine zeitlich nach vorne gerichtete Amnesie. Der Betroffene kann neue Inhalte nicht mehr abspeichern und kann die Gedanken nach Beginn des auslösenden Ereignisses nicht bzw. nur für sehr kurze Zeit behalten. Hierbei ist sozusagen die Merkfähigkeit bzw. das Lernen neuer Aufgaben stark eingeschränkt. Insgesamt beobachtet man häufiger eine anterograde Amnesie, jedoch bestehen oft beide Amnesieformen gleichzeitig nebeneinander. Beispielsweise erinnert sich jemand nach einem Trauma mit Bewusstseinsverlust weder an die Geschehnisse nach dem Ereignis noch kann er sich nach dem Erwachen neue Inhalte merken.
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Unter dem Korsakow-Syndrom versteht man eine besondere Form der Amnesie, die früher bei Alkoholkranken beobachtet wurde. Heutzutage hat man jedoch erkannt, dass neben einem chronischen Alkoholkonsum andere Auslöser für ein Korsakow-Syndrom infrage kommen, wie z.B. eine Hirnblutung, ein Schädel-Hirn-Trauma oder ein Sauerstoffmangel. Der Hauptgrund dieser Amnesie liegt im Mangel an Thiamin (Vitamin B1), welcher wichtige Abläufe im menschlichen Körper u.a. auch in Nervenzellen mitsteuert. Daher kann es bei der Minderversorgung zur Zerstörung wichtiger Hirnstrukturen kommen, besonders der Mamillarkörper, einem Teil des sogenannten Limbischen Systems, welches eine wichtige Rolle bei Lern- und Denkprozessen spielt. Daraus rührt eine verschlechterte Merkfähigkeit neuer Inhalte, oft verbunden mit einer retrograden Amnesie. Typisch für dieses Krankheitsbild ist die sogenannte Konfabulation, eine Erinnerungsverfälschung. Hierbei werden spontane Gedankeneinfälle bzw. Ideen fälschlicherweise einfach als richtig angenommen und anstelle der Erinnerungslücken eingesetzt.
Zunächst besteht die Therapie einer retrograden Amnesie in der Behandlung der eigentlichen Ursache. Falls eine andere Erkrankung, wie eine Epilepsie, eine Demenz, eine Entzündung oder ein Schlaganfall vorhanden ist, sollte diese entsprechend therapiert werden. Ferner sollte bei extremer seelischer Belastung durch die Gedächtnislücken eine Psychotherapie in Anbetracht gezogen werden. Die wohl wichtigste und effektivste Therapie stellt wohl der neuropsychologische Ansatz dar. Hierbei werden dem Betroffenen in einem intensiven Training verschiedene Lernstrategien vermittelt, mit dem die Gedächtnisleistung verbessert werden kann. Um den Alltag des Patienten zu erleichtern, wird zudem der Einsatz externer Gedächtnishilfen empfohlen. Das heißt, dass man sich z.B. wichtige Dinge auf einem Notizzettel oder auf dem Smartphone vermerkt, damit diese nicht in Vergessenheit geraten.
Zuletzt kann die Gedächtnisleistung durch gewisse Medikamente beeinflusst werden. Der Einsatz sollte jedoch individuell je nach Fall abgewogen und mit einem Facharzt entschieden werden, denn ein Einfluss ist nur nach Schädel-Hirn-Trauma untersucht worden. So werden Mittel wie Donepezil oder Methylphenidat off-label empfohlen, d.h. dass diese Medikamente eigentlich bei anderen Erkrankungen angewendet werden. Weiterhin werden zudem Rivastigmin oder Physostigmin eingesetzt, die beide die Konzentration des Neurotransmitters (Stoffe zur Signalweitergabe im Nervensystem) Acetylcholin erhöhen.
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Es ist schwierig genaue Angaben zur Dauer einer retrograden Amnesie zu machen. Dabei muss der Schaden im Gehirn nicht mal unbedingt mit dem Ausmaß der Erinnerungslücke zusammenhängen. Somit schwankt die Dauer individuell, bei dem einen kommt es zum Verlust der Inhalte für wenige Sekunden oder Minuten, bei anderen wiederum kann die Amnesie für bis zu 24 Stunden anhalten und der Betroffene hat einen Filmriss für den jeweiligen Zeitraum nach dem auslösenden Ereignis.
Sicherlich gibt es viele Faktoren, die eine Amnesie verschlechtern können, jedoch sind die genauen Einflussfaktoren bisher relativ unbekannt. Weiterhin unterscheidet sich auch, ob Betroffene sich irgendwann oder überhaupt an einzelne Gegebenheiten erinnern. So kann es sein, dass jemand die Geschehnisse wieder rekonstruieren kann. Mit der Zeit erinnern sich nämlich einige an einzelne Gedanken, die vorher ausgelöscht waren. Es kommt dabei zu immer weiteren Details, sodass die Gedächtnislücke auch ganz geschlossen werden kann. Dies kann einige Tage danach oder aber erst nach mehreren Jahren auftreten.
Die Prognose der retrograden Amnesie ist abhängig vom Auslöser des Gedächtnisverlusts. Wenn somit die Ursache klar ist und diese gut behandelt werden kann, ist folglich ein besserer Verlauf zu erwarten. Wird z.B. eine Epilepsie oder Hirnnervenentzündung erkannt und umgehend therapiert, besteht weniger Risiko für Folgebeschwerden. Besonders entscheidend ist zudem eine schnelle Behandlung nach einem Unfall bzw. Sturz mit Schädel-Hirn-Trauma, um die Folgeschäden so gering wie möglich zu halten. Denn der Bewusstseinsverlust stellt zudem einen lebensbedrohlichen Zustand dar. Günstig beeinflusst werden kann der Verlauf im Nachhinein durch ein gezieltes Trainieren des Kurzzeitgedächtnisses und die erneute Aktivierung des Langzeitgedächtnisses. Bei Einigen gelingt es sogar mit der Zeit die ausgelöschten Gedächtnisinhalte zurückzugewinnen. Dies kann jedoch mehrere Jahre dauern.
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