Tourette -Syndrom bezeichnet eine neurologisch-psychiatrische Erkrankung. Häufigkeit für ein Tourette-Syndrom liegt zwischen 0,03% und 1,6%. Der Name Tourette-Syndrom geht auf den französischen Neurologen George Gilles de la Tourette zurück.

Tourette-Syndrom

Definition

Als Tourette-Syndrom bezeichnet man eine neurologisch-psychiatrische Erkrankung, die durch muskuläre (motorische) und sprachliche (vokale) Tics charakterisiert ist, die aber nicht gleichzeitig auftreten müssen. Oftmals ist das Tourette-Syndrom mit Verhaltensstörungen verbunden.

Tics sind einfache oder komplexe, plötzlich austretende, kurz dauernde, unwillkürliche oder halbwegs willkürliche Bewegungen oder Geräusch- und Lautäußerungen.

Epidemiologie

Die Häufigkeit für das Tourette-Syndrom liegt in der Allgemeinbevölkerung zwischen 0,03% und 1,6%, wobei es auch Studien mit den Werten zwischen 0,4% und 3,8% gibt. Dies lässt auf eine abweichende Häufigkeit der Erkrankung bei unterschiedlichen Bevölkerungen schließen. Das Tourette-Syndrom scheint zum Beispiel bei Afroamerikanern deutlich seltener aufzutreten und kommt bei der afrikanischen Bevölkerung südlich der Sahara kaum vor. Allerdings findet man in allen Kulturen das Tourette-Syndrom, wenn auch in unterschiedlichen Häufigkeiten. Generell lässt sich aber sagen, dass etwa 1% aller Jugendlichen weltweit betroffen ist.

In Deutschland handelt es sich um 0,2% - 1,5% der Gesamtbevölkerung, wobei Männer dreimal häufiger betroffen sind als Frauen.

Historie

Die Krankheit wurde 1825 erstmals von Jean Itard, einem französischen Arzt und Pädagogen (1774-1838), in der medizinischen Literatur erwähnt. Er beschrieb das auffällige Verhalten der Marquise de Dampierre, die seit ihrem 7. Lebensjahr komplexe vokale Tics hatte, die merkwürdige Bewegungen, eigenartige Lautäußerungen und oftmals obszönen Äußerungen beinhalteten. Aufgrund dieses Verhaltens musste sie sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und starb vereinsamt im Alter von 86 Jahren.

Der Name Tourette-Syndrom geht auf den französischen Neurologen (siehe auch Neurologie) George Gilles de la Tourette zurück, der 60 Jahre später eine Studie über die Marquise de Dampierre und acht weitere Patienten, die an ähnlichen Tics litten, veröffentlichte. Die Studie erschien unter dem Titel: „Étude sur une affection nerveuse caracterisée par l'incoordination motrice accompagnée d'écholalie et de coprolalie de la Neurologie, paris 9, 1885, 19-42 et 158-200“ Dr. Tourette bezeichnete das Nervenleiden als die „Maledie des Tics.“

Auch Mozart und André Malraux sollen unter dem Tourette-Syndrom gelitten haben.

Ursachen

Die Ursache des Tourette-Syndroms ist nicht geklärt. Allerdings nimmt man Funktionsstörungen im Bereich der Systeme des Gehirns an, wie den Basalganglien, die den Botenstoff (Transmitter) Dopamin haben. Transmitter sind Stoffe, die der Signalübertragung im Gehirn dienen und in dem Fall des Tourette-Syndroms übermäßig aktiv sind. Die These wird gestützt durch die Tatsache, dass Gegenspieler des Dopamins (Dopaminantagonisten) die Tics reduzieren, wogegen Stoffe, die die Wirkung von Dopamin imitieren (Dopamimetika) und so die Dopaminwirkung erhöhen, ebenso wie Substanzen wie Amphetamine, Tics auslösen. Außerdem entspricht die Anzahl der Andockstellen (Rezeptoren) für das Dopamin (D2-Rezeptor) dem Ausprägungsgrad der Erkrankung.

Zusätzlich werden als Ursache auch Störungen in den Systemen vermutet, in denen Serotonin als Botenstoff vorhanden ist.

Es wird außerdem angenommen, dass es sich bei dem Tourette-Syndrom um eine erbliche (hereditäre) Erkrankung handelt. Bei 60% der Patienten lassen sich Tics bei Familienmitgliedern feststellen, es gibt also eine sogenannte „positive Familienanamnese“. Der Erbvorgang ist vermutlich dominant oder auch semidominant, d.h. nur ein Elternteil muss das kranke Gen haben, damit ihr Kind ebenfalls an Tics oder an dem Tourette-Syndrom erkrankt. Ein Tourette-Patient vererbt somit mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% sein krankes Gen. Allerdings kann die Ausprägung sehr unterschiedlich sein, so muss die Erkrankung nicht das vollständige Bild eines Tourette-Syndroms haben, sondern kann auch nur leichte Tics beinhalten. Die Ausprägung ist zum Beispiel davon abhängig, ob das kranke Gen von der Mutter oder von dem Vater vererbt wurde (genomic imprinting). Generell lässt sich sagen, dass Frauen weniger oft und weniger stark betroffen sind als Männer. Der genaue Genort des betroffenen Gens ist noch nicht gefunden worden.

Tics wurden außerdem bei Absetzen von sogenannten Nervendämpfungsmitteln (Neuroleptika) und Medikamente gegen Epilepsie (Antiepileptika) beobachtet.

In den letzten Jahren wurde immer mehr die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es sich bei dem Tourette-Syndrom auch um eine Autoimmunerkrankung handeln könnte (siehe auch: Immunsystem). Autoimmunerkrankungen sind Krankheiten, deren Ursache eine überschießende Reaktion des Abwehrsystems ist, sodass das Abwehrsystem den eigenen Körper angreift. Dies könnte infolge einer Infektion des Hals- und Rachenraums bzw. des Mittelohrs durch Streptokokken der Fall sein. Motorische und vokale Tics und Zwangsstörungen in engem zeitlichen Zusammenhang mit einer Streptokokkeninfektion werden unter dem PANDAS-Syndrom (Pediatric Autoimmune Neuropsychiatric Disorders Associated with Streptococcal Infections) zusammengefasst.

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Symptome

Symptome sind die bereits erwähnten motorischen und vokalen Tics. Darin können beinhaltet sein: Zuckungen im Hals- und Gesichtsbereich, verminderte Kontrolle von Impulsen, Räusperzwang, wiederholtes Ausstoßen obszöner und aggressiver Ausdrücke (Koprolalie), unanständige Bewegungen wie zum Beispiel Masturbationsbewegungen (Kopropraxie), das Wiederholen von Lauten oder Wörtern, die gerade gehört worden sind (Echolalie), Wiederholung gerade gesehenen koordinierten Bewegungen (Echopraxie) und das Wiederholen von Silben (Palilalie). Die motorischen Tics können so stark ausgeprägt sein, dass normale willkürliche Bewegungen der Hände unmöglich sind. Etwas 10% der Patienten leiden unter dem sogenannten Restless-leg-Syndrom, das unwillkürliche Bewegungen der Beine hervorruft.

Außerdem gibt es bestimmte Begleiterscheinungen des Tourette-Syndroms, die aber nicht zwangsläufig zum Krankheitsbild gehören. Diese sind nicht-flüssiges Sprechen, Hyperaktivitätsstörung in der Kindheit, Aufmerksamkeitsstörungen, zwanghafte Verhaltensweisen wie Zählen oder Berühren, selbstzerstörerisches Verhalten wie den Kopf absichtlich anschlagen oder andere Verhaltensauffälligkeiten.
 

Zu Zuckungen im Hals- und Gesichtsbereich gehören auch Zuckungen der Augenlider, deren Ursachen aber sehr vielfältig sind und nicht ausschließlich durch das Tourette-Syndrom verursacht werden können:
Zuckendes Augenlid - Das sind die Ursachen

Verlauf

Erste Symptome des Tourette-Syndroms treten meist zwischen dem 2. und 15. Lebensjahr und selten nach dem 20. Lebensjahr auf. Motorische Tics sind die anfänglichen Symptome, etwa 50% entwickeln komplexe motorische Tics, also Tics bei denen mehrere Muskelregionen beteiligt sind wie zum Beispiel beim Klatschen. In bis zu 35% der Fälle kommt es zu Echolalie und in 60% zu Koprolalie. Bei vielen Patienten kommt es zu einem vollständigen Nachlassen der Symptome (Remission) oder zumindest zu einer erheblichen Besserung. Oftmals haben Patienten mit einer Tourette-Störung zusätzlich eine Zwangsstörung oder hatten als Kinder eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung.

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Diagnose

Damit eine Erkrankung als Tourette-Syndrom diagnostiziert werden kann, muss sie die folgenden diagnostischen Kriterien nach Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (American Psychiatric Association 1987) erfüllen:

  1. Mehrere motorische und ein oder mehrere vokale Tics zu einer Zeit während des Verlaufes der Erkrankung, aber nicht unbedingt gleichzeitig
  2. Mehrmaliges Auftreten von Tics während des Tages, praktisch jeden Tag oder immer wieder auftretend über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr
  3. Regelmäßiger Wechsel der Anzahl, der Frequenz und der Art der Tics sowie der Körperregion, in der sie auftreten und dem wechselnden Verlauf in der Ausprägung der Symptomatik
  4. Auftreten vor dem 21. Lebensjahr

Nicht zwingend für die Diagnose Tourette-Syndrom sind also Koprolalie, Kopropraxie, Echolalie, Echopraxie und Palilalie, die für den Laien die wohl auffälligsten und bemerkenswertesten Symptome darstellen.

Die Diagnose erfolgt durch Befragung (Anamnese) des Patienten und Beobachtung der Symptome über einen längeren Zeitraum, damit der Schweregrad der Erkrankung erfasst werden kann. Dies wird mithilfe von Fragebögen und Schätzskalen gemacht, die extra für die sichere Diagnose des Tourette-Syndroms entwickelt wurden. Wichtig ist auch die Beurteilung der Krankengeschichte des Patienten selbst und seiner Familie. Es gibt aber keine spezifische Untersuchung, weder labortechnisch noch bildgebend. Jedoch können eine Messung der Gehirnströme (Elektroenzephalogramm, EEG) und ein Verfahren zur Herstellung von virtuellen Schnittbildern (Single-Photon-Emissionscomputertomographie, SPECT) des Gehirns zur Abgrenzung des Tourette-Syndroms von anderen Erkrankungen dienen. Die SPECT zeigt im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung eine verminderte Bindung von Dopamin an die D2-Rezeptoren.

Wenn die Ursache eine Autoimmunreaktion ist, lassen sich bestimmte Antikörper nachweisen.

Differentialdiagnose

Die motorischen Tics, die fester Bestandteil des Tourette-Syndrom sind, müssen von raschen unwillkürlichen Muskelzuckungen (Myoklonien) und Bewegungsstörungen (Dystonien) unterschieden werden. Tics können für einen gewissen Zeitraum unterdrückt werden, Myoklonien dagegen gar nicht und Dystonien nur bis zu einem gewissen Grad. Zusätzlich werden Tics von einer vorausgehenden Missempfindung begleitet, die die eigentliche Bewegung auslöst. Diese sensorische Komponente ist der wesentliche Unterschied zu anderen Bewegungsstörungen.

Therapie

Durch genetische Untersuchungen konnte ein Zusammenhang zwischen dem Tourette-Syndrom, chronischen Tics und Zwangsstörungen bewiesen werden. Diese enge Verbindung der Erkrankungen ist wichtig bei der Therapie, da Tourette-Patienten durch die psychiatrische Störung (siehe auch: Psychiatrie online) häufig stärker beeinträchtigt sind als durch motorische oder vokale Tics. Jedoch gibt es auch Patienten, die mit der Zeit selbst lernen mit ihren Tics umzugehen und so weder eine psychotherapeutische noch eine medikamentöse Behandlung benötigen. Wichtig ist es aber immer das soziale Umfeld des Patienten über die Erkrankung aufzuklären, sodass die Akzeptanz größer wird und die Isolation der Patienten verhindert wird. Die Therapie des Tourette-Syndroms kann nur symptomatisch erfolgen, d.h. nur die Symptome, also die Tics, werden behandelt, die Ursache jedoch ist meist ungeklärt und kann nicht therapiert werden.

Oft ist eine Verhaltenstherapie sinnvoll, in der gelernt werden soll, wie man die Tics im Alltag meistert. Sie werden zum Beispiel bei Konzentration auf eine Sache oder eine Handlung schwächer, bei Stress jedoch stärker. Eine medikamentöse Therapie wird meist nur dann eingesetzt, wenn die Tics für die Umgebung so erschreckend sind, dass der Patient zu sehr eingeschränkt wird, oder auch bei aggressiven Tics, die gegen den Patienten selbst oder andere Menschen gerichtet sind. Die wirksamsten Tic-reduzierende Medikamente sind Neuroleptika wie Haloperidol, Pimozid und Fluphenazin, deren Wirkung durch die Beeinflussung von Dopamin-Rezeptoren zustande kommt. Jedoch muss hier zwischen dem Nutzen der Therapie und den eventuellen Nebenwirkungen der Medikamente abgewogen werden. Die Einnahme von Neuroleptika führen zu Müdigkeit und nachlassender Motivation, was vor allem bei Schulkindern problematisch ist. Zusätzlich bergen Neuroleptika das Risiko einer Störung der Bewegungskoordination (Dyskinesie), weswegen sie nur in schweren Fällen verschrieben werden sollten. Clonidin, Tiaprid und Sulpirid sind zwar weniger nebenwirkungsreich, dafür aber auch nicht so effektiv.

Achtung:

Medikamente, die zur Behandlung von Hyperaktivität oder Zwangsstörungen bei Kindern eingesetzt werden, können zu einer Zunahme der Tics führen!

Rehabilitation /Prognose

Die Prognose ist bei den meisten kindlichen und jugendlichen Patienten mit Tourette-Syndrom recht gut. Viele der Patienten sind ab dem Ende des ersten oder Anfang des zweiten Lebensjahrzehnts frei von Tics, es kommt also zu einem vollständigen Nachlassen der Symptome (Remission) oder zumindest zu einer erheblichen Besserung. Jedoch kann es zu einer Festigung von Begleiterscheinungen wie Verhaltensstörungen oder Lernproblemen im Erwachsenenalter kommen. Über die Hälfte der betroffenen Personen fühlen sich durch diese Verhaltensprobleme stärker eingeschränkt als durch die Tics.

Für die schwer betroffenen erwachsenen Patienten sind neue Medikamente in der Entwicklung, genauso wie ein neues Verfahren der Tiefenhirnstimulation, damit für die erkrankten Personen eine höhere Lebensqualität gesichert werden kann.

Zusammenfassung

Das Tourette-Syndrom ist eine neurologisch-psychiatrische Erkrankung, die durch motorische und vokale Tics charakterisiert ist und meist von Verhaltensstörungen begleitet wird. Die Diagnose erfolgt durch genaue Befragung (Anamnese) und Beobachtung des Patienten über einen längeren Zeitraum anhand von Fragebögen und Schätzskalen. Die Therapie ist symptomatisch und häufig auch psychotherapeutisch. Eine medikamentöse Therapie mit Neuroleptika wird nur dann empfohlen, wenn der Patient unter extremen Leidensdruck, Schwierigkeiten in der Schule, Beruf oder Familie leidet oder es zu aggressiven Tics kommt, bei denen der Patient selbst oder Menschen in seiner Umgebung verletzt werden könnten. Bei vielen der kindlichen und jugendlichen Patienten kommt es zu einem Nachlassen der Symptome (Remission) ab dem 18. Lebensjahr.

Weitere Informationen

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Autor: Dr. Nicolas Gumpert Veröffentlicht: 17.10.2009 - Letzte Änderung: 18.09.2024