differenzielles Lernen ist eine moderne Form der Bewegungserlernung in allen Sportarten. Im Gegensatz zum klassischen, programmtheoretischen Ansatz werden beim differenziellem Lernen die Wiederholungen vermieden.
Die klassische Vorstellung, eine Bewegung zu erlernen, sieht im Normalfall wie folgt aus: Der Übende führt die zu erlernende Bewegung mehrmals hintereinander wiederholend aus. Zu Beginn wird die Bewegung meist sehr unsicher und technisch unsauber ausgeführt. Der Lehrer bzw. Trainer besitzt eine gewisse Vorstellung wie die Zielbewegung aussehen soll und versucht diese anhand von Bildreihen (visuell) oder beschreibend (akustisch) dem Übenden möglichst verständlich zu vermitteln. Alles was während der Bewegungsausführung von dieser optimalen Zielbewegung (technisches Leitbild) abweicht, ist dabei falsch und muss bei der Wiederholung des Übenden möglichst vermieden werden (ständiger Soll- Ist- Wert Vergleich). Die Abweichung vom Technikleitbild wird zunehmend verringert, bis die Zielbewegung mit möglichst wenig Schwankung erreicht wird.
Jeder kennt dieses Vorgehen aus dem Sportunterricht oder dem Training im Verein. Der Trainer versucht solange die Bewegung wiederholen zu lassen und die Fehler zu korrigieren, bis die Zielbewegung (Zieltechnik) erreicht ist. Wer sportlich nicht besonders involviert ist, kann sich diesen Zusammenhang beim klassischen Schulunterricht verdeutlichen. Wurde früher ein Fehler im Diktat begangen, musste dieses Wort mehrfach wiederholt werden. Klar wird in diesem Zusammenhang, dass das Einschreiten und die Vorstellung der optimalen Bewegung des Trainers/ Lehrers im Vordergrund stehen. Würde bei der Korrektur eines Diktats ein Wort zum wiederholten Male falsch geschrieben werden, würde sich im Gedächtnis das falsche Wort einprägen. Ähnlich ist dies im Sport zu sehen.
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Der Sportler/ Schüler wird in dem Fall als ein “technisches Mängelwesen“ angesehen, der über keinerlei „Bewegungs“erfahrung verfügt. Das Lernen des Menschen wird bei diesem sogenannten programmtheoretischen Vorgehen als eine Art Computer verstanden.
Jetzt gibt es jedoch bei dieser Sichtweise vom Lernen, sowohl im motorischen, als auch im kognitiven Bereich ein Problem, denn das menschliche Gehirn (und somit Lernen) funktioniert nicht wie ein Computer. Das Gehirn funktioniert am besten mit Assoziationen des Bekannten. Diese Fähigkeit wird jedoch weder (bzw. kaum) im schulischen, noch im außerschulischen Sport/ Lernen ausgenutzt.
Beim differenziellem Lernen wird davon ausgegangen, dass der Mensch selber die Fähigkeit in sich besitzt, die richtige Bewegung etc. zu erlernen. Häufig wird dieser Ansatz aufgrund von mangelndem Verständnis nicht, oder noch nicht in der Trainingspraxis angenommen. Viele Trainer sind der Ansicht, wenn der Sportler die richtige Bewegung selber entwickelt, wird die Trainerfigur überflüssig. Dies ist ganz und gar nicht der Fall, eher umgekehrt, es kommen noch mehr und noch schwierigere Aufgaben auf den Trainer zu. (Dazu später mehr)
Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass das herkömmliche Training (programmtheoretische Sichtweise) gegenüber differenzielles Lernen nicht falsch oder schlecht ist, es basiert auf einen anderen Grundsatz und führt schlussendlich auch zum Erfolg. Ergebnisse aus jüngeren Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass Erlernen durch differenzielles Lernen schnellere Erfolge verzeichnen konnte.
Ein klassisches Beispiel des systemdynamischen Ansatzes (differenzielles Lernen) beim motorischen Lernen findet man bei Laufen lernen kleiner Kinder. Bis zum Erlernen der Zielbewegung (aufrechtes Gehen) ist der Lernprozess durch sehr hohe Schwankungen der Bewegungsausführungen gekennzeichnet. Das Lernen erfolgt ausschließlich durch selbstständiges Probieren. Eltern zerlegen das Gehen nur selten in Teilbewegungen und unterrichten Kleinkinder anhand zusammensetzender Teilmethoden. Die Zielbewegung wird jedoch immer in annähernder Perfektion erreicht. Das Kind erfährt durch die hohen Schwankungen beim Bewegungslernen ein sehr großes Bewegungsempfinden.
Differenzielles Lernen geht davon aus, dass Bewegungen, egal aus welcher Sportart, ein sehr hohes Maß an individuellen Faktoren beinhaltet. Dies kann man sich sehr gut am Beispiel der Technik im Tennis der beiden Sportler (Roger Federer und Raphael Nadal) erkennen. Beide Spielen auf dem höchsten Niveau mit völlig unterschiedlichen Techniken. Ein Technikleitbild ist daher nur sehr schwer zu determinieren, da jeder Mensch zur Lösung einer Bewegungsaufgabe unterschiedliche Dispositionen aufweist.
Der differenzielle Ansatz stellt somit Technikleitbilder beim Bewegungslernen in Frage. Ein weiterer Faktor aus dem systemdynamischen Ansatz (differenzielles lernen) ist, das Bewegungen immer hohen Schwankungen ausgesetzt sind. Es ist praktisch nicht möglich, den Selben Schlag/ Schuss/ Wurf etc. zweimal unter den gleichen Bedingungen durchzuführen, da zu viele äußere und innere Faktoren die Bewegung stören. Genau diese Schwankungen (im programmtheoretischen Ansatz als Fehler bezeichnet) nutzt das differenzielle Lernen aus, um ein möglichst großes Bewegungsspektrum zu ermöglichen. Es geht somit zwar wie auch beim programmtheoretischen Ansatz um das Erreichen der individuellen optimalen Zielbewegung, jedoch wird beim differenziellen Lernen der Mensch als Selbstlernendes System verstanden.
Unterliegt eine sportliche Bewegung aufgrund äußeren (Gegner, Wind etc.) und inneren (Muskeln, Gelenkstellungen etc.) Einfluss, wird die Bewegung immer durch Schwankungen gekennzeichnet sein. Diese Schwankungen können/ müssen im Trainingsprozess integriert werden. Ein weiteres Beispiel für das Ausnutzen der Schwankungen ist die Tatsache, das Kinder, die in frühen Jahren das Kinderturnen besuchten, größere Erfolge in Sportarten haben, als Kinder ohne diese Erfahrungen. Das Turnen in frühen Jahren eröffnet eine breit gefächerte Bewegungserfahrung und bessere Körperwahrnehmung.
Der Mensch strebt nach Differenzen. Sowohl auf der physiologischen, als auch auf der neurologischen Seite. Das gilt demnach auch für ein Krafttraining. Das gleiche Training mit den gleichen Gewichten und gleichen Wiederholungszahlen wird langfristig wahrscheinlich nicht den gewünschten Erfolg erzielen. Wer jahrelang im Bereich der Hypertrophie (Muskelaufbau) trainiert, wird mit einem einzigen Trainingsreiz im Kraftausdauerbereich größere Erfolge im Muskelaufbau erzielen, als ein weiterer Hypertrophiereiz.
Viele (dies impliziert nicht alle) Trainer verstehen die Intention dieses Ansatzes jedoch nicht, und interpretieren die genannten Schwankungen falsch. Es ist selbstverständlich dass es auf das richtige Ausmaß der Bewegungsvariation ankommt. Diese Differenzen, wiss. auch als "Rauschen" bezeichnet müssen vom Trainer so gewählt werden, dass immer ein Bezug zur optimalen Bewegung gewährleistet bleibt. Betrachten wir beispielsweise den Aufschlag im Tennissport. Ein differenzielles Lernen beinhaltet eine veränderte Umweltbedingung (Wahl des Schlägers, Wahl des Balles) und veränderte Technikkomponenten (Fußstellung, Hüfteinsatz, Armeinsatz, Griffhaltung etc. etc.). Es werden bewusst typische dem Trainer wohl bekannte Fehler in die Bewegungsausführung integriert, um somit die Anpassung im neuronalen Netz (neuronale Plastizität) zu provozieren. Der Fokus und die Auswahl des Schwankens müssen jedoch immer das Erreichen der Zielbewegung provozieren. Es ist somit nicht förderlich, einen Aufschlag von unten zu simulieren, da dieser im Bewegungsausmaß sehr weit von der Zielbewegung (Aufschlag von oben) entfernt liegt. Im Idealfall wird bei jeder Bewegungsausführung ein sog. Rauschen bewusst eingesetzt.
Wird das Bewegungslernen durch differenzielles Lernen um die jeweilige Zielbewegung variiert, ermöglicht es dem Lernenden in zukünftigen Bewegungsabläufen variabel zu reagieren. Es kommt zur Interpolarisation der Technik. Betrachten wir das Beispiel Tennis:
Im freien Spiel, muss der Spieler durch Einwirken des Gegners auf eine immer neue Bewegungssituation reagieren. Durch die Schwankungen beim Bewegungslernen wird dem Sportler ein größerer Bewegungs- und Handlungsspielraum ermöglicht. Die Zielbewegung ist dabei nicht an das Technikleitbild des Trainers gekoppelt, sonder entwickelt sich im Laufe der Entwicklung für jeden Spieler selbst. Wir sprechen dabei von einem Lösungsbereich.
Den Beweis für das differenzielle Lernen wurde mehrfach in praktischen Untersuchungen durchgeführt. Dabei wurden der klassischer Ansatz (programmtheoretische Sichtweise/ methodische Übungsreihen) und das differenzielle Lernen vergleichen. In den Bereichen Basketball, Fußball, Tennis und Kugelstoßen konnten bereits signifikante Leistungsverbesserungen festgestellt werden.
Durch die Regeländerung in den 90 Jahren kam es zu grundlegenden Änderungen im Handballspiel. Dieser Strukturwandel ermöglichte ein viel höheres Spieltempo und mehr Dynamik. Die Leistungsvoraussetzung bzw. das konditionelle Anforderungsprofil rückt seit dem immer mehr in den Vordergrund. Elementar für die Sportart Handball ist neben der Taktik und Kondition, das Erlernen der richtigen Technik und somit auch das richtige Techniktraining. Beim Erlernen einer Technik wird zwischen zwei unterschiedlichen Methoden unterschieden:
Der sog. Konservative programmtheoretische Ansatz stammt aus der klassischen Psychologie und sieht den Menschen beim Erlernen von Bewegungen als ein reines Informationsverarbeitendes System. Es entstehen sog. generalisierte motorische Programme (gmP). Eine neu erlernte Bewegung ist somit ein neues zentral gespeichertes Programm. Gekennzeichnet ist diese Lernmethode durch hohe Wiederholungszahl in gleicher Situation. Beim Tennis wäre dies den gleichen Schlag immer wieder und wieder zu wiederholen.
Grobkoordination --> Feinkoordination --> Feinstkoordination
Klassische Vermittlungsmethoden sind
Beim programmtheoretischen Ansatz treten eine Reihe von Problemen auf, die im folgenden kurz zusammengetragen werden. Die Kontrolle und Korrektur erfolgt immer fremdgesteuert durch den Lehrer oder Übungsleiter. Es gibt keinen Nachweis für ein zentrales Steuerungssystem im Gehirn, worauf der programmtheoretische Ansatz basiert. Die natürliche Schwankung innerhalb der Bewegung ist immer gegeben, selbst im Hochleistungssport.
Mehr zum Thema unter: Motorisches Lernen
Grundlage für den systemdynamischen, differenziellen Ansatz ist die Physik. Dieser Ansatz sieht den Menschen als ein synergetisches, nicht- lineares, chaotisches System, das selbstorganisierend lernt. Das Bewegungslernen erfolgt hierbei als ein Suchprozess und Erfahrungsprozess Wahrnehmungs,- und Erfahrungsraum. Im Vergleich zum programmtheoretischen Ansatz besteht hier kein standardisierter Bewegungsablauf.
Variabilität --> Instabilität --> Selbstorganisation
Die Ausführungsvariabilität wird beim differenziellen Lernen bewusst eingesetzt und angewandt, um eine möglichst große Schwankung innerhalb der Bewegung zu provozieren. Dies löst den Prozess der Selbstorganisation aus. Merke: Kleine Kinder erlernen das Laufen im differenziellen System. Beim differenziellen Lernen entstehen verschiedene Möglichkeiten bewusst ein Variabilität innerhalb einer Bewegung entstehen zu lassen.
Betrachten wir die Großen Gelenke im Menschlichen Körper, so zählen wir 14. Kombiniert mit den oben genannten Ausführungsmöglichkeiten ergeben sich unendlich viele Bewegungskombinationen.
Hieran kann man sehr gut erkennen, dass alleine beim Werfen und Fangen so viele Variationsmöglichkeiten entstehen. Empfohlen wird, pro Training nicht mehr als 60 Würfe bei 2 bis 3 Trainingseinheiten pro Woche ausführen. Die Komplexität sollte im Verlauf des Trainings immer erhöht werden.
Zahlreiche Studien haben bereits belegt, dass mit einem systemdynamischen Ansatz bessere Trainingserfolge erzielt werden, als mit einem konservativen Training. Es stellt sich jedoch die Frage, warum in fast allen Sportarten und Verbänden fast ausschließlich mit dem programmtheoretischen Ansatz gearbeitet wird.