Früherkennung der Legasthenie

Die Möglichkeiten, Lese- Rechtschreibschwierigkeiten oder gar eine Legasthenie früh zu erkennen, sind gegeben, allerdings erfordert es eine Offenheit dazu und setzt Grundkenntnisse voraus, Wahrnehmungsschwächen erkennen und Fehler, bzw. Auffälligkeiten deuten zu können. Schon im Vorschulalter können sich Auffälligkeiten bemerkbar machen, die zu Problemen im Schriftspracherwerb führen können. Insbesondere die Wahrnehmung spielt für die Vorbereitung auf den Lese- und Schreiblernprozess eine besondere Bedeutung.

Früherkennung einer Legasthenie

Synonyme im weiteren Sinne

Merkmale, Symptome, Auffälligkeiten, Frühwarnung, Lese- Rechtschreibschwäche, LRS, Leserechtschreibschwäche, Lese - Rechtschreib - Schwäche, Dyslexie, Dyslexia, isolierte oder umschriebene Lese- Rechtschreibschwäche, Lernbeeinträchtigung im Lesen und Rechtschreiben, Lese- Rechtschreibstörung, Lernschwierigkeiten im Fach Deutsch, Lernschwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben, Legasthenie.

Definition Früherkennung

Alle Kinder, die Probleme (im schriftsprachlichen Bereich) aufweisen, haben ein Recht auf Förderung - ganz egal ob dies nun auf eine Legasthenie (Teilleistungsstörung bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz) oder auf allgemeine schulische Probleme, beispielsweise in Kombination mit einer Rechenschwäche, einem ADS oder ADHS, einer Konzentrationsschwäche o.ä. zurückzuführen ist.
Die Möglichkeiten, Lese- Rechtschreibschwierigkeiten oder gar eine Legasthenie früh zu erkennen, sind gegeben, allerdings erfordert es eine Offenheit dazu und setzt Grundkenntnisse voraus, die eine Deutung der Fehler und der Auffälligkeiten erst ermöglichen.

Risikokinder

Im Gegensatz zur Rechenschwäche gibt es nach derzeitigen Untersuchungen im Bereich der Lese- Rechtschreibschwächen mehr Jungen als Mädchen, die Probleme im Lesen und Rechtschreiben aufweisen.
Dabei ergaben die Untersuchungen auch, dass in den meisten Fällen dieses Ungleichgewicht schon vor Schulbeginn nachgewiesen werden konnte. Somit geht man davon aus, dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen frühen Auffälligkeiten und der späteren Problematik im Bereich Lesen und Rechtschreiben.
Weshalb Jungen tendenziell häufiger unter Problemen im Lesen und Rechtschreiben, somit auch häufiger unter einer Legasthenie leiden, ist nicht abschließend geklärt. Angenommen werden neben den genetischen Dispositionen auch hormonelle Unterschiede, aber auch die Tatsache der Self-fulfilling prophecy: Kinder, die wenig Selbstvertrauen in die eigene Leistung besitzen, Deutsch nicht gerne machen und eventuell sogar Angst davor entwickeln, haben häufiger auch Probleme im Lesen und Rechtschreiben. Ebenso verhält es sich mit Kindern, der der Schule gegenüber - aus welchen Gründen auch immer - negativ eingestellt sind.
Auch Kinder mit anderen Lernproblemen, wie zum Beispiel einer vorhandenen Konzentrationsschwäche, einem ADS mit oder ohne Hyperaktivität, aber auch Rechenschwäche können dazu neigen auch Probleme im schriftsprachlichen Bereich zu entwickeln.

 

Lernvoraussetzungen der Schulanfänger

Ein Kind kommt nicht als “unbeschriebenes Blatt” in die Schule. Es hatte bereits im vorschulischen Bereiche vielfach Kontakt mit der Schriftsprache. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Kinder beim Eintritt in die Schule die ganze Bandbreite an Leistungsfähigkeiten aufzeigen können.

Da gibt es unter anderem:

  • das Kind, welches in seiner Schriftsprachentlwicklung schon Sätze mit sehr wenigen Fehlern notieren kann
  • das Kind welches auf der lautsprachlichen Ebene kommuniziert und
  • das Kind dessen “Geschriebenes” völlig unlesbar ist.

Kinder durchlaufen unterschiedliche Stadien des Schriftspracherwerbes, die individuell unterschiedlich lange dauern und anhalten können.
Es gibt unterschiedliche Modelle, die die schriftsprachliche Entwicklung beschreiben und in Stadien unterteilen.

Das Modell nach Gudrun Spitta entspricht in vielen Bereichen unseren Beobachtungen. Sie werden in der nachfolgenden Tabelle beschrieben. Das einer Stufe jeweils zugewiesene Alter beschreibt Circa - Werte. Schwankungen in beide Richtungen sind denkbar.
Vorab noch einige Anmerkungen zum besseren Verständnis:

  • Laute oder Phoneme sind gesprochene Buchstaben / Buchstabenverbindungen,
  • Grapheme sind geschriebene Buchstaben / Buchstabenverbindungen.

Spricht man von einer Phonem - Graphem - Zuordnung will man damit ausdrücken, dass einem gesprochenen Buchstaben, bzw. einer gesprochenen Buchstabenverbindung das entsprechende Zeichen zugeordnet wird.

1. Phase:

  • auch: vorkommunikative Phase genannt
  • im Alter von etwa 2 Jahren
  • Kinder lernen am Vorbild, sehen Erwachsene schreiben, ahmen nach
  • Kritzelbilder entstehen
  • In der Regel bestehen Kritzelbilder nur aus Linien, die kreuz und quer angeordnet werden.

2. Phase:

  • auch: vorphonetische Phase genannt
  • Im Alter von etwa 3 bis 5 Jahren
  • Kritzelbilder, allerdings ähneln die gemalten Zeichen einigen Buchstaben
  • Kinder erkennen: Erwachsene benutzen Buchstaben aus bestimmten Gründen
  • Später wird klar: Erwachsene benutzen Buchstaben, um miteinander zu kommunizieren

3. Phase:

  • auch: halbphonetische Phase genannt
  • im Alter von etwa 3 bis 5 Jahren
  • Kinder erkennen: Schrift bildet die Sprache ab
  • Kinder vollziehen erste Schreibversuche
  • In der Regel werden “Wortskelette” geschrieben. Dies bedeutet, dass Kinder auf dieser Stufe beim “Schreiben” meistens keine Vokale (a, e, i, o, u) benutzen. Dies liegt unter anderem auch daran begründet, dass Erwachsene Buchstaben “buchstabieren” und nicht lautieren: Be, Ce, De, Eff, Ge, Ha.
  • Beispiel für ein Wortskelett: Ptr statt Peter.
  • !!! Benutzen Sie die Lautiermethode und benennen Sie Buchstaben vor Ihrem Kind nach dem jeweiligen Laut. Dies erleichtert die Arbeit im ersten Schuljahr, in dem alle Buchstaben und -verbindungen nach Lauten eingeführt werden.

4. Phase:

  • auch: phonetische Phase genannt
  • im Alter von etwa 5 bis 7 Jahren
  • Kinder erkennen: Laute werden durch Buchstaben abgebildet.
  • Kinder schreiben “lautsprachlich”, also so, wie sie sprechen.
  • Beispiel: alalipster Bruda statt allerliebster Bruder, Schteine statt Steine, ...

5. Phase:

  • Phase der phonetischen Umschrift mit zunehmender Integration von Rechtschreibregeln
  • ungefähr im ersten, bzw. zweiten Schuljahr (im Alter von etwa 6 bis 7 Jahren)
  • Kinder erkennen: Das, was ich schreibe kann man zwar lesen und verstehen, aber: es gibt zusätzliche Regeln, die man beim Schreiben einhalten muss.
  • Probleme, die durch die Erkenntnis entstehen: Überkorrektur: Vata wird zu Vater, aber auch Papa wird zu Paper usw.

6. Phase:

  • Phase, in der der Übergang zur entwickelten Rechtschreibfähigkeit vollzogen wird.
  • ab etwa 8 Jahren
  • Phonem - Graphem - Zuordnung wird sicher beherrscht
  • erste Regeln, wie zum Beispiel: Groß- und Kleinschreibregeln werden angewendet
  • Wortarten, Wortfamilien, Endungen und Vorsilben werden zum Klären der Rechtschreibung hinzugezogen.
  • Ausbau des Grundwortschatzes und seiner zunehmend sicheren Beherrschung.

Kinder kommen somit in unterschiedlichen “Rechtschreibstadien” in die Schule. Sie alle im Anfangsunterricht “unter einen Hut” zu bekommen und dabei jedes Kind individuelle zu fördern und die Motivation hoch zu halten ist die Aufgabe des Anfangsunterrichtes. Ähnlich verhält es sich mit der Lernausgangslage bezogen auf die Lesefähigkeiten.

Ein Kind muss nicht schon vor der Einschulung Lesen und Schreiben lernen. Dieser Lernprozess vollzieht sich in der Regel in der Schule! Die nachfolgende Tabelle listet Grundvoraussetzungen auf, die für die bisherige Schriftsprach- und Leseentwicklung von Bedeutung waren und auch von großer Bedeutung für die nachfolgenden Entwicklungsstadien sein werden.
Dies sind:

Insbesondere die Wahrnehmung spielt für die Vorbereitung auf den Lese- und Schreiblernprozess eine besondere Bedeutung. Man unterscheidet verschiedene Sprachwahrnehmungsleistungen, die für den Lese- und Schreiblernprozess unverzichtbar sind und in gewisser Weise die verschiedenen Wahrnehmungsbereiche miteinander verbinden.
Hinzu kommt die Notwendigkeit, dass sich ein Kind über einen bestimmten Zeitraum hinweg konzentrieren kann. Im ersten Schuljahr sollte ein Kind dazu in der Lage sein, sich über einen Zeitraum von 15 bis 20 Minuten hinweg konzentriert mit einer Aufgabe beschäftigen zu können. Kann es das nicht, heißt es noch lange nicht, dass eine Konzentrationsschwäche vorliegt. Es bedeutet aber, dass die Konzentrationsfähigkeit trainiert werden sollte.

Die vielen Unterschiede und unterschiedlichen Lernausgangslagen erfordern in erster Linie einen pädagogischen Übergang vom Kindergarten zur Grundschule. Es zeigt sich häufig, dass viele Problem nur anfänglich bestehen und sich ohne weitere Einmischung von ganz alleine lösen. Es gibt aber auch - und das darf nicht verschwiegen werden - Kinder, deren Einschulungsprobleme sich verfestigen und echte Krisen - bis hin zur Schulphobie - auslösen können. Symptome hierfür können sein: Aggressivität, Unruhe (“zappeln”), Unaufmerksamkeit, “unbegründetes” Weinen, Lernblockaden, Überforderung, ...
Es ist daher von enormer Bedeutung, dass der Übergang so gestaltet werden muss, dass ein Erfolg in der (weiterführenden) Schule wahrscheinlich wird. Dies ist aber nicht nur die alleinige Aufgabe des Kindergartens und der Schule, sondern auch Aufgabe der Eltern, die maßgeblich die Entwicklung und Erziehung des Kindes beeinflussen und begleiten. Viele Probleme, die in der Schule auftauchen, können - mit der richtigen Sensibilität und den entsprechenden diagnostischen Maßnahmen und Fähigkeiten - schon in der vorschulischen Entwicklung des Kindes herausgefunden werden.

Sprachwahrnehmung

Wie bereits oben schon angedeutet, ist die Fähigkeit der Sprachwahrnehmung eng mit der generellen Wahrnehmung verbunden. Man kann sogar sagen, dass sie - ohne die Entwicklung der generellen Wahrnehmungsfähigkeit gar nicht möglich wäre. Dies bedeutet aber auch, dass die Wahrnehmungsschulung einen enormen Einfluss auf das Lesen- und Schreibenlernen ausübt.
Breuer / Weuffen unterscheiden verschiedene Sprachwahrnehmungs- leistungen, so genannte Differenzierungsfähigkeiten, die die Basis bilden für jegliche Sprach-, Schreib- und Lesefähigkeiten.
Werden Probleme in den nachfolgend genannten Bereichen nicht frühzeitig erkannt, können Teilleistungsschwächen wie zum Beispiel Legasthenie oder Dyskalkulie die Folge sein, oder aber sich eine Lese- Rechtschreibschwäche (LRS) oder eine Rechenschwäche entwickeln.

Unterschieden werden:

Die Fähigkeit zur Unterscheidung im ...

... optisch - graphomotorischen Bereich:

  • Voraussetzung für das Erlernen des Lesens und Schreibens oraussetzung für die Fähigkeit, Gehörtes in Schrift und Schrift in Verbales umzuwandeln
  • Das Nachschreiben von Buchstaben fällt schwer, ebenso das Nachzeichnen einfacher Symbole.
  • Optisches Verwechseln von Buchstaben, die ähnlich aussehen (b/d/q/p), ...: Raum - Lage - Labilität, die sich “auswachsen” kann, oder sich aufgrund einer Schwäche beim Buchstaben - Laut - Zuordnen im schlimmsten Falle verfestigt.
  • Erraten von Wörtern beim Lesen
  • Buchstabenauslassungen beim Schreiben (Wortskelette)
  • ...

... phonematisch - akustischen Bereich:

  • Voraussetzung für Erfolge in diesem Bereich stellt ein gutes Gehör dar.
  • Gute Fähigkeiten in diesem Bereich sind die Voraussetzung für eine korrekte Aussprache. Eine korrekte Aussprache ermöglicht lautgetreues und rechtschriftlich korrektes Schreiben und somit ein Einprägen der Korrekten Schreibweise.
  • Probleme beim Unterscheiden von Reimwörtern (Maus - Strauß, ...)
  • Kinder, die gewisse Laute nicht richtig aussprechen (g wird als d gesprochen, z.B. demalt statt gemalt) können auf phonematische Schwächen hinweisen.
  • Probleme treten u.a. bei Kindern auf, denen es schwer fällt, Laute aus Wörtern heraus zu hören. Im ersten Schuljahr werden nach der Einführung bestimmter Laute und Buchstaben solche Lautanalyseübungen durchgeführt. Dabei sollen die Kinder entscheiden, wo sie den Laut hören (Anfang - Mitte - Ende). Dies sieht beispielsweise so aus:
    Den Kindern werden verschiedene Bilder gezeigt, z.B. das eines Stuhls, eines Elefanten und einer Blume. Die Kinder setzen ein Kreuz an die Stelle, an der sie den gesuchten Laut hören, z.B. Wo hörst du im ersten Bild (Stuhl) das “St”? Wo hörst du im zweiten Bild (Elefant) ein “e”?, Wö hörst du im dritten Bild (Blume) das “e”?

... kinästhetisch - artikulatorischen Bereich:

  • Gute Fähigkeiten in diesem Bereich sind die Voraussetzung für eine sichere Aussprache, die korrekte Analyse von Lauten und die korrekte Aussprache von Lauten und Lautverbindungen innerhalb eines Wortes.
  • Eine sichere Aussprache setzt voraus, dass die Sprechmotorik gut ausgebildet ist und somit ein Kind dazu in der Lage ist, die entsprechenden Mund- und Zungenbewegungen, die zur Aussprache von Lauten notwendig sind, nachzuvollziehen.
  • Sprechmotorik und die Fein- sowie Grobmotorik sind eng miteinander verbunden. Kinder, die Probleme im grob-, bzw. feinmotorischen Bereich aufweisen, haben häufig auch sprachmotorische Probleme und umgekehrt.
  • Überprüfen der Fähigkeiten durch das Nachsprechenlassen von Wörtern, die schwer auszusprechen sind.
  • Auffälligkeiten beim Nachsprechen sind deshalb problematisch, weil Kinder sich beim Schreiben eines Wortes häufig das Wort leise vorsprechen. Wird es fehlerhaft vorgesprochen, wird es auch fehlerhaft geschrieben.

... melodisch - intonatorischen Bereich:

  • Hiermit ist gemeint: Der Ton macht die Musik, anders gesagt: die Fähigkeit, aus der Betonung Stimmung und Informationen “zwischen den Zeilen” zu erkennen.
  • Die Reaktion auf Sprache bildet sich bereits im Mutterleib, also vor dem eigentlichen Erwerb der Sprache.
  • Das Gesprochene als solches wird nicht verstanden. Unterschieden wird zwischen positiver, negativer, evtl. auch noch zwischen neutraler Stimmung.
  • Studien zur Folge haben etwa 10 % der Erstklässler Probleme beim melodisch und rhythmisch richtigen Singen von Liedern.
  • Die Fähigkeit hierzu stellt allerdings die Basis dar für das richtige Erfassen von Sprache.
  • Machen Kinder Fehler beim betonten Vorlesen bekannter Wörter zeigt das stets, dass das Wort als solches vom Sinn her nicht erfasst wurde - obwohl es eigentlich bekannt ist. Die Melodiedifferenzierung ist also von großer Bedeutung für das Erfassen und Anwenden des gelesenen Textes.
  • melodische Differenzierungsfähigkeit impliziert nicht zwangsläufig eine besondere Musikalität des Kindes.
  • lese- rechtschreibschwache Kinder haben hier häufig ein Defizit

... rhythmisch - strukturierenden Bereich:

  • Das rhythmische Aufsagen von Sprachversen in Kombination mit Klatschfolgen kann einen ersten Eindruck über die melodisch - intonatorische Fähigkeit eines Kindes geben. Es zeigt sich, dass lese- rechtschreibschwache Kinder hierbei Probleme haben.
  • Rhythmus muss nicht zwangsläufig in Kombination mit einer Melodie in Erscheinung treten.
  • Lesefehler, beispielsweise das Vertauschen und Verdrehen von Lautverbindungen oder das Auslassen von Buchstaben, sind unter anderem ein Zeichen dafür, dass die rhythmische Struktur eines Wortes nicht erfasst wurde.
  • Studien konnten belegen, dass Kinder mit Schwächen im rhythmisch - strukturierenden Bereich meistens auch Probleme im Anfangsunterricht, besonders im Erstleseunterricht und im Schreiblernprozess

Weitere Legasthenie - Themen

Autor: Dr. N. Gumpert Veröffentlicht: 21.05.2007 - Letzte Änderung: 15.03.2022